Rund sieben Jahrzehnte nach der Uraufführung von Wagners »Tristan und Isolde« machte sich der Schweizer Komponist Frank Martin daran, denselben Stoff noch einmal neu zu erzählen – angesichts der enormen Wirkmächtigkeit von Wagners Werk ein kühnes Unterfangen. Dabei verbot sich für den Pazifisten Martin aufgrund der Vereinnahmung Wagners durch die nationalsozialistischen Machthaber ohnehin jede Anknüpfung an dessen wuchtiges Gesamtkunstwerk. Vielmehr wählte er einen völlig anderen gestalterischen Zugriff und beschränkte sich in der Besetzung auf ein zwölfstimmiges Vokalensemble, sieben solistische Streichinstrumente und ein Klavier. Inhaltlich bezog er sich auf den 1900 erschienenen Roman »Tristan und Isolde« des französischen Mediävisten Joseph Bédier, der für seine Fassung auf Quellen zurückgriff, die noch älter als Gottfried von Straßburgs Epos sind. Indem Martin drei Kapitel dieses Buchs wörtlich vertonte, fand er zu einer ungewöhnlichen oratorischen Form, in der die uralte Geschichte der Liebenden von dem Vokalensemble erzählt und kommentiert wird, während einzelne Handlungsträger wie Tristan, Isolde, Brangäne oder Marke solistisch aus dem Ensemble hervortreten.