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Fragmente einer Wirklichkeit, die einmal war.

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Mit Sergey Anufriev, Volodymyr Budnikov, Mykola Filatov, Sergey Geta, Evgeni Gordiets, Eduard Gorochovskij, Ilya Kabakov, Andrij Kocka, Yuri Leiderman und Andrey Silvestrov, Jurij Luckevič, Petro Markovič, Anatolij Mašarov, Daniel Mitljanskij, Vera Morozova, Halyna Neledva, Oleh Petrenko, Arkadij Petrov, Larisa Rezun-Zvezdočetova, Viktor Ryžich, Lyudmila Skypkina, Oleksandr Tyšler und Leonid Vojcechov

Das Ludwig Forum für Internationale Kunst beherbergt rund 1800 Malereien, Skulpturen und Grafiken aus der ehemaligen Sowjetunion sowie Mittel-, Ost- und Südosteuropa, die Irene und Peter Ludwig zwischen 1979 und 1996 gesammelt haben. Fragmente einer Wirklichkeit, die einmal war gibt den Auftakt zu einer Neusichtung, Neuverortung und Erforschung von Teilen dieser Sammlung, die in der Vergangenheit unter dem Schlagwort „Kunst aus der UdSSR“ inventarisiert wurden und über die es bis heute nur wenige Informationen gibt. Darüber hinaus sollen diese Arbeiten und künstlerischen Positionen entlang aktueller kunst- und kulturwissenschaftlicher Diskurse neu kontextualisiert und damit auch der westliche Blick auf die „osteuropäische Kunst“ kritisch hinterfragt werden. Diese erste Ausstellung des gleichnamigen Forschungsprojekts untersucht ein Konvolut künstlerischer Arbeiten, die auf unterschiedliche Weise mit der Ukraine verbunden sind. Sie versucht, unscharfe Kategorisierungen, Terminologien und Kontextualisierungen–seien es geografische, politische oder kunsthistorische–einer Revision zu unterziehen, um der Vielfalt und Komplexität einer nicht zuletzt von Spannungen und Gewalt geprägten Region gerecht zu werden.

Dass wir hierbei Sehgewohnheiten ändern müssen, zeigt sich bereits im ersten Raum der Ausstellung, in dem Arbeiten aus den 1970er- und 80er-Jahren präsentiert sind, die auf den ersten Blick der Klassischen Moderne des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zugehörig scheinen. Entstanden sind sie in Resonanz auf die Doktrin des Sozialistischen Realismus, die vorsah, dass die Künste allein dem Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft dienen sollten. Vor diesem Hintergrund entfalten die anachronistisch wirkenden Malereien von ländlichen Idyllen wie Familie im Donbass (1970) von Arkadij Petrov und Gurzuf (1972) von Jurij Luckevič ihr emanzipatorisches Potenzial. Die Flucht ins Private und zu entlegenen Orten, jenseits des Zugriffs der Zentralregierung, war charakteristisch für das subversive Unterlaufen der Kunstdoktrin. In bewusster Abkehr vom offiziellen Bestreben, alle künstlerische Produktion unter dem Vorzeichen des Kommunismus zu vereinheitlichen, gehörte der Rückzug ins Private genauso wie der Rückgriff auf nationalpatriotische Motive innerhalb der einzelnen Sowjetrepubliken zu den typischen Formen eines, wenn auch defensiven, künstlerischen Widerstands.

Weiterhin thematisiert die Ausstellung das Erbe der „russischen Avantgarde“. Zu sehen sind Malereien von Oleksandr Tyšler aus den 1960er- und 70er-Jahren, an denen der universelle Charakter der Avantgarde und der darauffolgenden metaphysisch-figurativen Malerei des frühen 20. Jahrhunderts erkennbar wird, die mit ihren ästhetischen und revolutionären Programmen zu einem wichtigen Bezugspunkt für viele nachfolgende Künstler*innen in der Sowjetzeit wurden. Die großformatigen Malereien Angelsaison (1989) und Ende der Vorstellung (1987) von Leonid Vojcechov sind wiederum beispielhaft für eine Ende der 1980er-Jahre in der ukrainischen Gegenwartskunst verbreitete Bildsprache, die sich unter anderem ironisch mit der sich schon in Auflösung befindlichen Sowjetunion auseinandersetzt.

In diesem Licht ist auch die achtteilige Siebdruckserie Spiele (1983) von Eduard Gorochovskij zu sehen. Ausgangspunkt der Serie ist das fotografische Porträt eines adeligen Ehepaares. Die in ihrer Pose erstarrten Figuren versetzt der Künstler in unterschiedliche Situationen der Gegenwart, wo sie teilnahmslos ihre Rolle spielen, ob als Sportler*innen, Flugbegleiter*innen oder bei einer Pressekonferenz. Die „totale und absolute Ignoranz der Personen auf dem alten Foto gegenüber der Tatsache, dass sie Gegenstand eines komplexen, raffinierten und erfundenen Spiels geworden sind“, wie Ilya Kabakov schrieb, ist immer auch Ausdruck starrer gesellschaftlicher Konventionen, die der Künstler befragt. Die kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Rollenbildern klingt ebenfalls in der Assemblage Natur und Fantasie (1990) von Larisa Rezun-Zvezdočetova an. Letztere war zusammen mit Leonid Vojcechov und Yuri Leiderman in den 1980er-Jahren Teil der inoffiziellen Kunstszene in Odessa, die Aktionen und Ausstellungen in privaten Ateliers, Wohnungen oder in der Natur organisierte. Verbunden mit dieser Kunstszene war der gebürtige Ukrainer Ilya Kabakov, Mitbegründer des Moskauer Konzeptualismus, der in seiner Arbeit In der Ecke (1977–1988) die Leere thematisiert, der angesichts der Allmacht des Staates und kaum vorhandener gesellschaftlicher Freiräume eine große symbolische Bedeutung zukam. In ihrer Videoarbeit Odessa. Fragment 205 (2015) greifen Yuri Leiderman und Andrey Silvestrov die Geschichte von Odessa und Fragen der Identifikation als Ukrainer*innen anhand zweier bedeutender Künstler auf: Valentin Khrushch und Oleg „Pepper“ Petrenko. Zudem sind in der Ausstellung weitere Aktionen und Protagonist*innen dokumentiert, die in den 1980-Jahren an der inoffiziellen Kunstszene in Odessa beteiligt waren.

Durch die unterschiedlichen künstlerischen Begegnungen in und mit der Ukraine in der Sammlung Ludwig wird deutlich, dass wir vor der Herausforderung stehen, immer nur auf Fragmente einer Wirklichkeit, die einmal war zurückzublicken. Anstelle von eindeutigen Kategorisierungen–wie konformistische und nonkonformistische Kunst–oder nationalen Zuschreibungen kommen auch Zwischenräume und Uneindeutigkeiten in der kontextualisierenden Bestandsaufnahme zum Tragen. Mit dem Forschungsprojekt, das zum Ziel hat, die generalisierend als „osteuropäische Kunst“ bezeichneten Sammlungsbestände neu zu erschließen, rücken bislang wenig erforschte und kaum gezeigte Konvolute in den Blick, die Peter und Irene Ludwig hinter dem Eisernen Vorhang erworben haben. Die mit ihnen verbundenen Ordnungssysteme und Narrative sollen einer Revision unterzogen werden, hin zu einer alternativen Terminologie, und im Sinne einer Dekolonisierung der Geschichtsschreibung, um insbesondere die Diversität der einzelnen Kulturräume innerhalb der ehemaligen UdSSR und der weiteren ehemaligen Ostblockländer zu berücksichtigen.

Kuratiert von Galina Dekova
Forschungsvolontariat Kunstmuseen NRW „Sammlungsschwerpunkt: Osteuropa“

Mit der großzügigen Unterstützung des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.

Preisinformation:

Tickets an der Tageskasse

Location

Ludwig Forum Aachen Jülicher Straße 97-109 52070 Aachen

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