Für die gebürtige Ukrainerin Ganna Gryniva sind alte Volkslieder aus ihrer Heimat eine Herzensangelegenheit – und eine wahre musikalische Fundgrube. Ihr von der Kritik hochgelobtes Album HOME (mit dem GANNA Ensemble) hat mit seinen emotionsgeladenen, jazzig gefärbten Arrangements bereits für Aufsehen gesorgt – der Bayerische Rundfunk nannte HOME „(…) sicherlich ein Album des Jahres, ergreifend, kraftvoll, großartig gesungen und gespielt!“.
Der Nachfolger KUPALA (Berthold records, 2023), auf dem Gryniva mit Loops, Samples und anderen Effekten arbeitet, klingt deutlich elektronischer. Auch hier verbindet die Wahlberlinerin gekonnt verschiedene Sinneswelten von Jazz über ukrainischen Folk bis hin zu experimenteller Musik, immer mit einem starken Bezug zu den ursprünglichen Themen der ukrainischen Gesangstradition wie Liebe, Trauer und der Verbindung von Alltag und Natur.
Immer wieder ist sie in ihre alte Heimat gereist, um in Archiven nach traditionellen Volksliedern zu stöbern und die Lieder ihrer Großmütter und Großväter aufzunehmen. Diese Fundstücke präsentiert sie nun in ihren Solostücken – auf äußerst originelle Weise. Auf dem gemeinsam mit Tomáš Kaspar aus London produzierten Album wird Gryniva bei einigen Stücken vom Schweizer Schlagzeuger Julian Sartorius unterstützt. Beim Hören wird schnell klar, dass die eingesetzte Technik kein Selbstzweck ist, sondern dazu dient, den Puls der Musik zu unterstreichen – wie bei der Winterballade Hanya oder dem Liebeslied Obrutch. Ganna mag Lieder, die Optimismus und Lebensfreude ausstrahlen, und auf ihrem Soloalbum hat sie diese Energie auf eine ganz andere Weise akzentuiert und ausgearbeitet.
Zwei Titel aus KUPALA sind auch in dem preisgekrönten Dokumentarfilm Life after Butscha (Grimme-Preis, 2023) zu hören, der sich mit russischen Kriegsverbrechen in der ukrainischen Stadt Butscha beschäftigt. Die Regisseurin des Films, Mila Teshaieva, war von Grynivas Musik so beeindruckt, dass sie zwei Stücke für den Dokumentarfilm verwendete. Gryniva: Lebidonka handelt von Kosaken, die ihr Land verteidigen, während ihre Verwandten zu Hause beten, dass sie unversehrt nach Hause zurückkehren. Und Misto ist ein Liebeslied. Insgesamt ist dies ein äußerst kraftvoller und in gewisser Weise herausfordernder Film. Einerseits, weil er den Zuschauer ergreift und ihn mit großer Traurigkeit konfrontiert. Andererseits, weil er auf berührende Weise zeigt, wie stark die Überlebenden seelisch sind und wie sie sich gegenseitig beim Wiederaufbau unterstützen.
Gemeinsam mit dem Filmemacher Peter Bräunig hat Gryniva auch ihren eigenen Dokumentarfilm Spivanka fertiggestellt.
Der Film vermittelt Eindrücke von ihrer Reise in die Ukraine im Jahr 2018: „Es gibt Szenen, in denen ich mit alten Frauen spreche, die für mich singen und mir ihre Lebensgeschichten erzählen.“ Der Film dringt tief in die Seele der ukrainischen Volksmusik ein – dank seiner Protagonisten, die sich an die Musik ihrer Kindheit erinnern und sie in ihren Erinnerungen bewahren, indem sie sie mündlich weitergeben. Es sind diese Bilder und Szenen, die die unabhängige und autonome Identität des ukrainischen Volkes unterstreichen. „Spivanka“ wurde im Rahmen der WOMEX music expo 2023 gezeigt, die Ende Oktober in A Coruña/Spanien stattfand. Auf der WOMEX 2024 wird GANNA einen eigenen Showcase spielen.
Gerade ist auch eine neue Single von ihr erschienen: Mermaids. Das Stück ist inspiriert von einem rituellen Folklore-Lied aus der Kyiver Region, das während der Meerjungfrauenwoche gesungen wird. In dieser Woche erlaubten die Menschen den mystischen Wesen der Natur sich auszutoben und hofften den Rest des Jahres von ihnen ungestört zu sein.
Photos ©Doville Sermokas