Im Jahr 2014 verließ ein Team unabhängiger Journalist:innen Russland, um Repression und Zensur zu entkommen. Im Exil gründeten sie Meduza – heute eines der wichtigsten unabhängigen russischsprachigen Medien. Die darauffolgenden Jahre sind geprägt von Frustration und Aufruhr: vom Krieg in Europa, einer Pandemie, der andauernden Klimakrise, dem Aufstieg des Autoritarismus, dem Zerfall der Demokratie und einer wachsenden Polarisierung in allen Gesellschaften.
Mit der Ausstellung „No“ (Nein) verwirklicht das Team von Meduza ein interdisziplinäres Projekt, das zeitgenössische Kunst mit dokumentarischen Zeugnissen verwebt. Die Ausstellung nimmt das Publikum in die Lebensrealität von Menschen mit, die gelernt haben, unter extremen Bedingungen zu leben und zu arbeiten.
Der Titel „No“ – Russisch «Нет» – versteht sich als ein Zeichen des Widerstands. Es ist ein Wort, das im heutigen Russland gefährlich geworden ist; ein Wort, das zu Gefängnis oder sogar zum Tod führen kann. Die Ausstellung vereint Stimmen von Menschen, die weiterhin „Nein” sagen – zu Diktatur, Zensur, Angst und Krieg. Sie ist eine Hommage an unabhängige Journalist:innen, politische Aktivist:innen und alle, die den Mut haben, zu widersprechen.
„Diese Ausstellung erzählt von einer Zeitenwende – aber vor allem von den Menschen, die diesen schwerwiegenden Ereignissen gegenüberstehen. Solche Konfrontationen führen immer zu tragischen Konsequenzen. Dieses Projekt zeigt uns Menschen, die davon erzählen – vom Leben unter einer Diktatur, im Exil, vom Erleben des Krieges. Es sind Gespräche, die mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Doch es ist kein Zufall, dass die Ausstellung „No“ heißt: "Es ist auch unser Nein – zu Angst und Schweigen, Zensur und Selbstzensur. ” So die Kurator:innen der Ausstellung.
DOKUMENTARISCHES ERZÄHLEN
Die Erzählstruktur der Ausstellung basiert auf zwei Elementen: den Arbeiten von 13 internationalen Künstler:innen und einem eigens für die Ausstellung entwickelten dokumentarischen Projekt, in dem, vom Dramatiker Mikhail Durnenkov konzipiert, Nahaufnahmen von Journalist:innen und Mitwirkenden von Meduza gezeigt werden. Zu den Porträtierten gehören u.a. die Reporterinnen Taisia Bekbulatova, Elena Kostyuchenko, Svetlana Reiter und Lilia Yapparova, die Autorin Zhenia Berezhna, der Filmkritiker Anton Dolin, der Fotograf Alexander Gronsky sowie die Meduza-Gründer:innen Ivan Kolpakov und Galina Timchenko.
NEIN THEMEN
Basierend auf der Analyse von Meduza-Schlagzeilen der letzten zehn Jahre untersucht die
Ausstellung zentrale Themen des vergangenen Jahrzehnts: Diktatur, Resilienz, Zensur, Krieg, Exil, Angst, Polarisierung, Einsamkeit und Hoffnung. Diese Themen spiegeln sich sowohl in den Kunstwerken als auch in den journalistischen Zeugnissen wider.
Der letzte Raum – Hoffnung – lässt die Besucher:innen ohne leichte Antworten zurück. Stattdessen stellt er eine einfache, aber tiefgreifende Frage: Warum machen diejenigen, die berichten, gestalten und widersprechen, weiter? Die Antworten sind vielschichtig, doch eines ist klar: Künstler:innen und Journalist:innen schlagen Alarm. Wie einst die Kanarienvögel in den Bergwerken, die vor giftigem Gas warnten, erinnern ihre Stimmen an unsere gemeinsame Menschlichkeit – und an die gemeinsame Verantwortung, sie zu schützen.
KÜNSTLER:INNEN
Anonyme:r Künstler:in (Russland): Time of War – ein fortlaufendes Projekt mit inzwischen 150 Variationen des Satzes „Ich will, dass der Krieg endet“ in verschiedenen Sprachen. Ein Akt der Selbstheilung und zugleich ein Friedensmanifest, das die Besucher:innen auffordert, ihre Stimmen beizutragen.
Aleksey Dubinsky (Russland) zeigt eine Serie von Gemälden über die langen Warteschlangen, die sich auf dem Borisovskoye-Friedhof bei Alexei Nawalnys Beerdigung bildeteten – ein Ereignis, das als „Begräbnis der Hoffnung“ in Erinnerung bleibt. Die Arbeiten reflektieren sowohl den Verlust als auch die Kraft, die mit gemeinschaftlicher Trauer einhergehen.
Alexander Gronsky (Russland) widmet sich mit Fotografien, die in den vergangenen Jahren in ganz Russland entstanden sind, dem Thema Einsamkeit . Als „der Letzte im Laden“, wie er sich selbst nennt, setzt sich Gronsky mit dem Gefühl der Isolation in einer von Propaganda geprägten Gesellschaft auseinander.
Semyon Khanin (Lettland) thematisiert gesellschaftliche Polarisierung in einer neuen Installation, die buchstäblich Schwarz zu Weiß und Weiß zu Schwarz werden lässt – eine eindringliche Metapher für die tiefgreifende Verzerrung der Realität durch Manipulation in gespaltenen Gesellschaften.
Gülsün Karamustafa (Türkei) zeigt Where Continents Meet, eine Arbeit, die Militäruniformen in Kindergrößen aus einem Istanbuler Geschäft zeigt - ein Symbol für die verheerenden Opfer, die Kriege fordern, insbesondere von Müttern und Kindern.
Stine Marie Jacobsen (Dänemark) und Teobaldo Lagos Preller (Chile) präsentieren Quantum No, eine partizipative Installation, die Besucher:innen einlädt, politische Aussagen für das Projekt Law Shifters zu formulieren. Das Projekt widmet sich langfristig der Arbeit an Demokratie und reist seit 2015 von Grönland und der Ukraine bis in den Libanon und motiviert Bürger:innen, sich neue rechtliche Rahmenbedingungen vorzustellen.
Cristina Lucas (Spanien) steuert Unending Lightning bei – eine unheimliche, gestickte Weltkarte von Luftangriffen. Die Arbeit wurde kürzlich um die von russischen Bomben verursachten Zerstörungen im Ukrainekrieg erweitert und bietet ein visuelles Archiv der Vernichtung aus der Luft.
Pavel Otdelnov (Russland) zeigt Primer, eine Serie großformatiger Werke, inspiriert von einem sowjetischen Alphabetbuch seiner Kindheit. Jeder Buchstabe – etwa „R“ für „Radiation“ oder „G“ für „Grave“ – wird zu einem Sinnbild für eine von Angst und Bedrohung geprägte Erziehung.
Sergei Prokofiev (Russland) präsentiert Arbeiten aus seinem Projekt HELL, darunter fragile 3D-Stift-Rekonstruktionen des zerstörten internationalen Flughafens Donezk und des Theaters von Mariupol sowie grafische Werke, die mit der Asche verbrannten Plastiks gefertigt wurden – eine eindrucksvolle Erinnerung an die Permanenz von Verlust.
Fernando Sánchez Castillo (Spanien) stellt ein Denkmal vor, das im heutigen Russland undenkbar wäre: eine Figur von Alexej Nawalny, der 2024 im Gefängnis ermordet wurde. Besucher:innen können eine kleine Statue mitnehmen – im Tausch gegen eine persönliche Notiz zum Thema Widerstandskraft – und so Erinnerung in Handlung verwandeln.
SUPERFLEX (Dänemark) zeigt All Data To The People, ein Wandbild, das provokant auf Russisch («Данные народу») überschrieben ist. Die Arbeit verweist auf staatliche Zensur, digitale Manipulation und die Aneignung radikaler Slogans durch autoritäre Systeme.
Pilvi Takala (Finnland) präsentiert ein neues Video, basierend auf ihrer Teilnahme an Finnlands geheimem, nur auf Einladung zugänglichen „Nationalen Verteidigungskurs“. Die Arbeit beleuchtet, wie militärische Institutionen das öffentliche Bewusstsein prägen und unter dem Deckmantel von Einheit und Sicherheit zur Militarisierung beitragen.
Alisa Yoffe (Frankreich/Russland) dokumentiert in einer Serie von digitalen Scharz-Weiß-Skizzen ihre eigenen Erfahrungen als Emigrantin – darunter Szenen aus Warteschlangen vor französischen Migrationsämtern. Später auf Leinwand und Wände übertragen, bringt ihr expressiver, analog wirkender Pinselstrich Menschlichkeit in einen sonst sterilen bürokratischen Raum.
PARTNER
Helsingin Sanomat Foundation, Fritt Ord Foundation, Stichting Editors Choice, JX Fund, Committee to Protect Journalists, Network of Exiled Media Outlets