Mit der Ausstellung „Raus aus der Ecke“ zeigt Lara Wertheinmal mehr, wie sehr körperliche Grenzerfahrungen, mentale Ausnahmezustände und urbane Bildräume in ihrer künstlerischen Praxis verschmelzen. Im Zentrum steht das neue, großformatige Werk „A Few Miles“ (2025), begleitet von kleineren Arbeiten wie „Hill Sprints“ (2024) oder „Water Loading“(2025), die direkt aus einem körperlichen und geistigen Prozess hervorgegangen sind: dem Laufen als Denkform, als Widerstand, als Vorbereitung.
Werths Zeichnungen sind keine Illustrationen physischer Bewegung, sondern visuelle Verdichtungen innerer Zustände. Der Körper dient nicht als Sujet, sondern als Medium. In seinen Erschöpfungsgrenzen beginnt der künstlerische Raum;ein Raum, der sich in Linien, Verdichtungen und Verschiebungen auf das Papier überträgt. Wie bei CyTwombly, dessen Schreibbewegungen zu Zeichensystemen wurden, oder Hanne Darboven, die Denken in rhythmische Zahlen überführte, entsteht bei Werth eine Sprache der Wiederholung, des Widerstands – aber ohne kalkulierte Struktur, stattdessen durchsetzt von Hitze, Müdigkeit, Durst.
„Es ist die Unterwerfung der eigenen Persönlichkeit unter ein selbst gewähltes Schicksal“, schreibt Werth. Ein Satz, der an asketische Strategien bei Künstlerinnen wie Ana Mendietaoder Agnes Martin erinnert. Doch wo Mendieta das Ritual in den Boden einritzte oder Martin Linien zur Meditation machte, ist Werths Sprache lauter, körpernäher, brüchiger. Ihre Werke entstehen aus einem Zustand, in dem Disziplin zur Überforderung wird und genau darin Ausdruck findet. In einem Tagebucheintrag vom 3. Dezember 2024 beschreibt sie die Entstehungsumstände:
„Es geht nicht um Fett, nicht um Muskelmasse – es geht um Wasser. Ich laufe, in mehreren Schichten, mit Schwitzanzug, während die Sonne brennt. [...] Der Hunger ist längst weg. Was bleibt, ist dieser Durst – und die Erinnerung daran, warum ich das mache.“
Dieses Laufen – beispielsweise während eines Weight Cuts in Thailand vor einem Boxkampf – ist Vorbereitung und künstlerischer Zustand zugleich. Aus dieser Erfahrung entstehen Bildräume, die zwischen Überreizung und Struktur oszillieren. Ihre großformatigen Zeichnungen wirken wie urbane Wimmelbilder, die das prekäre Gleichgewicht des städtischen Lebens offenbaren und ‚Wirklichkeit‘ zu einem visuellen Ausnahmezustand verdichten. Mit Edding, Kreide, Ölstift und Tusche erschafft Werth Stadtlandschaften aus Stromleitungen, Bahngleisen, umherfliegenden Autobahnkreuzen, Fightclubs und Mangrovenwäldern;bevölkert von Tierwesen, Dinosauriern, urzeitlichen Fischen. In ihrer anarchischen Bildlogik oder Fülle erinnert sie an die fantastischen Szenerien von Hieronymus Bosch, an die symbolgeladene Dichte Philip Gustons oder die chaotische Urbanität von Franz Ackermann; doch Werths Zeichnungen folgen keiner kartografischen Struktur, sondern einem inneren, erzählerischen Strom.
„Meine Arbeiten erzählen von diesem Ausnahmezustand – vom Kontrollverlust und vom Willen, trotzdem weiterzumachen. Sie sind wimmelnd, überladen, voller Erschöpfung und Sehnsucht.“
„Raus aus der Ecke“ verweist auf Werths eigene Boxpraxis. Die Ringecke: Ort der kurzen Erholung, aber auch der Begrenzung. Die Künstlerin beschreibt sie als Symbol für das kreative Arbeiten unter Druck – das Warten, das Funktionieren, das Sich-Bereit-Halten. Doch das eigentliche Ziel ist der Ausbruch:
„Raus aus der Ecke heißt für mich: Raus aus der Begrenzung. Aus dem Funktionieren. Aus der Wiederholung. Der Komfortzone. Und rein in etwas, das nicht sicher ist – aber echt.“
Diese Bewegung wird sichtbar in Werths Linienführung, in der Bildkomposition, im Chaos. Ihre Arbeiten dokumentieren keinen linearen Prozess, sondern den Versuch, ein inneres Durcheinander zu erfassen und sichtbar zu machen, ohne es zu glätten. Es ist eine Kunst, die nicht erklärt, sondern durchhält. Eine visuelle Praxis, die zwischen den Polen von Selbstkontrolle und Auflösung pendelt. Keine Erzählung des Triumphs, sondern ein sichtbar gemachter Zustand innerer Arbeit.
„Der Schmerz ist manchmal größer als die Erinnerung an den Grund. Und dann laufe ich trotzdem weiter“, schreibt Werth.
Ihre Zeichnungen fangen diesen Zustand ein: nicht als Heldinnenerzählung, sondern als widersprüchlichen, erschöpften, zutiefst menschlichen Versuch, nicht stehen zu bleiben.
– Aileen Treusch, Juni 2025