Flüsse haben im Leben von Tobias Meinhart schon immer eine wichtige Rolle gespielt. War es zu Schulzeiten die Donau, die der in einem kleinen Ort in der Nähe von Regensburg aufgewachsene Saxofonist täglich überqueren musste, ist es heute der East River in New York. Dort, in der Welthauptstadt des Jazz, lebt Meinhart nun schon seit über 15 Jahren.
Ihm ist etwas gelungen, das nur ausgesprochen wenige Musiker aus Deutschland geschafft haben: Er ist fester Bestandteil der Jazzszene New Yorks, tritt regelmäßig als Bandleader in den wichtigsten Clubs und Festivalformaten der Stadt wie dem Blue Note, dem Birdland, Smalls, Jazz at Lincoln Center oder dem Winter Jazzfest auf.
Mit „Sonic River“ (Album-VÖ: 18. April 2025), seinem inzwischen zehnten Album unter eigenem Namen, unterstreicht Meinhart, wie souverän er in den Fluten und Stromschnellen des modernen Jazz zu navigieren weiß. Gleichzeitig erweist sich die Einspielung aber auch als Sprung ins kalte Wasser. Es ist nicht nur die erste Veröffentlichung auf Meinharts frisch gegründetem eigenen Label „Sonic River Records“, sondern markiert auch hinsichtlich seines musikalischen Selbstverständnisses einen Wendepunkt für den 1983 geborenen Saxofonisten.
Er habe zum ersten Mal das Gefühl, nichts beweisen zu müssen, erklärt Meinhart, der in seinen Projekten regelmäßig mit Stars wie der Trompeterin Ingrid Jensen oder dem Gitarristen Kurt Rosenwinkel zu hören ist.
„Es geht auf dem Album um den Spirit des Jazz. Ich traue mich, das auszudrücken, was in diesem Moment gerade in mir vorgeht“, sagt der Wahl-New-Yorker. Und so wird man auf „Sonic River“ Zeuge, wie sich der einst vom Magazin Jazz thing als „eines der größten deutschen Talente am Tenorsaxofon“ genannte Musiker zu einem Meister von internationalem Top-Niveau gemausert hat.
Der Schlüssel dafür lautet: Mach dir keine Gedanken, lass es fließen. Wie lässige Surfer gleiten Meinhart und seine hochkarätigen Mitmusiker auf den Wellen der melodisch fein mäandernden Stücke. Unter der Führung ihres bayerischen Bandleaders verkörpern Eden Ladin am Klavier, Charles Altura an der Gitarre, Matt Penman am Bass und Obed Calvaire an den Drums mit ihren israelisch-neuseeländisch-haitianischen Wurzeln geradezu mustergültig den Melting-Pot-Charakter New Yorks. Man hört, dass sich diese fünf auch jenseits von Studio und Bühne gut verstehen.
Eine weitere Neuerung in Meinharts Oeuvre: Zum ersten Mal arbeitete er mit einem Produzenten zusammen. Es handelt sich dabei um Matt Pierson, der unter anderem schon für Brad Mehldau und Joshua Redman tätig war.
„Ich habe meine Lieblingsplatten angeschaut und festgestellt: Da taucht immer sein Name auf“, lacht Meinhart. Die Präsenz und Autorität des Grammy-Preisträgers während der Aufnahmesession in den Sear Sound Studios sollte sich als enorm hilfreich erweisen. „Er wusste sofort, wann ein Take perfekt ist und half auch bei der Stückauswahl. Er bestärkte mich darin, dass ich loslassen kann“, beschreibt der Saxofonist den wohltuenden Einfluss der Produzentengröße auf die Einspielung.
Befasste sich der vom renommierten US-Fachblatt Downbeat als eine der besten Jazzaufnahmen des Jahres 2022 gelistete Albumvorgänger „The Painter“ mit dem Zusammenspiel von Musik und Malerei, so ist die Palette auf „Sonic River“ jetzt noch einmal ein Stück breiter. Neben dem Wasserthema wird die Aufnahme von lauter literarischen Bezügen bestimmt, die dem begeisterten Leser Meinhart als Inspiration für seine Kompositionen und Arrangements dienten. Am offensichtlichsten zeigt sich die Verbindung von Klangmalerei und Wort in den von der Portugiesin Sara Serpa gesungenen Gedichtvertonungen. Da wäre zum einen das eindringliche „Silencio“ der argentinischen Lyrikerin Alejandra Pizarnik und zum anderen eines der bekanntesten Werke Rainer Maria Rilkes. Es ist faszinierend, wie Meinhart den berühmten „Panther“ nach Brasilien ins Land der Saudade verschifft und die lauernde Sehnsucht in seiner Version schier die Brust zu sprengen scheint. „This Is Water“ und „Mr. Vertigo“ wiederum sind innige wortlose Verbeugungen vor David Foster Wallace und Paul Auster, während „Korean Chant“ auf der Transkription der Gebetsgesänge von Mönchen basiert, die Meinhart einmal bei einer Tour durch Südkorea hörte. „Where Did You Sleep Last Night?“ schließlich, die einzige Fremdkomposition auf „Sonic River“, ist eine schwungvoll-gospelige Aktualisierung einer alten Moritat des Blues- und Folksängers Leadbelly im 5/4-Takt.
Als schwebte noch etwas von ihnen in der Luft über dem East River, haben viele große Vorgänger mit New-York-Bezug wie Sonny Rollins oder John Coltrane ihre Spuren in Meinharts wendigem Spiel auf Tenor- und Sopransax sowie Altflöte hinterlassen. Doch er beherzigt das, wozu ihm die Jazzlegende Wayne Shorter einmal so klar wie poetisch verrätselt geraten hatte: „Keep doing your thing. Thunder and lightning.“
Diese eigene Stimme lässt Meinhart nun volltönend erklingen: In Soli voller Raffinesse, Wärme und Ehrlichkeit. In Kompositionen, die sich trotz ihrer rhythmischen Komplexität so ausnehmen wie lange im Kopf nachhallende Gedichte. Und nicht zuletzt in dem Mut, sich treiben zu lassen – in der sicheren Gewissheit, dass ihn das Wasser trägt. Mit „Sonic River“ hat Tobias Meinhart ein Album geschaffen, das im Fluss des Jazz Bestand haben wird.