Unwirkliche Verbindungen – Andere Geografien des Surrealismus rückt die surrealistische Bewegung anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens aufs Neue in den Fokus. Das zweitägige Festivalprogramm imaginiert und kartografiert den Surrealismus neu, indem es verwandte Bewegungen und Geschichtsschreibungen hervorhebt, die üblicherweise als separat betrachtet oder gänzlich ignoriert wurden. Gleichermaßen feiert es die übergangenen Künstler*innen der Strömung und schlägt andere Bezugspunkte vor.
„Jazz ist meine Religion, und Surrealismus ist mein Standpunkt“,[1] schrieb Ted Joans und brachte damit in wenigen Worten die eklektische, transformative Qualität des Surrealismus auf den Punkt. Oftmals fälschlicherweise als irrational abgetan, war der Surrealismus tatsächlich ein profundes Vehikel für die Erkundung und Verwirklichung von Freiheitsbestrebungen, Rebellion und eine Neugestaltung der Realität. Die Strömung entstand in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und versuchte, den westlichen Rationalismus zu bekämpfen, indem sie die Tiefe des menschlichen Geistes mittels Automatismus, Schrift, Poesie und Psychoanalyse zum Ausdruck brachte. André Breton definierte ihn in seinem Manifest des Surrealismus aus dem Jahr 1924 als „psychischen Automatismus“[2] und beschrieb damit eine Denkweise, die nicht von Vernunft und Moral geleitet war. Seiner internationalen Strahlkraft zum Trotz wurde der Surrealismus oft als eine männliche, europäische Bewegung verstanden. Unwirkliche Verbindungen: Andere Geografien des Surrealismus wirkt diesem verengten Narrativ entgegen, indem es sich mit oftmals unbeachtet gebliebenen Vertreter*innen der surrealistischen Denkweise und Praxis aus verschiedenen Ländern auseinandersetzt, darunter Suzanne Césaire, Joyce Mansour und Ted Joans. Zugleich werden neue Verbindungen zu den Werken zeitgenössischer Künstler*innen wie Madeleine Hunt-Ehrlich, Moses März, Emilie Moorhouse, Savanna „Sweetwater“ Morgan, Fiston Mwanza Mujila, Ben Okri, Lisa Spalt, Yoko Tawada und anderen hergestellt, ohne sie in die surrealistische Schublade stecken zu wollen.
Das Programm befasst sich beispielsweise mit dem Werk von Suzanne Césaire. Die Schriftstellerin aus Martinique transformierte den Surrealismus während des Vichy-Regimes in ein politisches Werkzeug karibischer Freiheitsbestrebungen. In ihren Schriften in der Literaturzeitschrift Tropiques hob sie das revolutionäre Potenzial des Surrealismus hervor und bezeichnete ihn als „mächtige Kriegswaffe“[3] gegen die koloniale Unterdrückung. Im Rahmen des Festivals wird Madeleine Hunt-Ehrlichs Film The Ballad of Suzanne Césaire (2024) gezeigt und diskutiert, der sich mit Césaires Leben, ihrem Vermächtnis und ihrer poetischen Vision befasst. Ihre schriftstellerische Stimme und ihr Einfluss werden darin aus einem filmischen Blickwinkel neu interpretiert. Darüber hinaus wird das Schaffen von Schriftsteller*innen wie der surrealistischen Lyrikerin Joyce Mansour durch Lesungen, Gespräche und neue Übersetzungen für die heutige Zeit kontextualisiert. Und obwohl Kritiker*innen wie Sarane Alexandrian behaupten, dass der Surrealismus mit dem Tod Bretons im Jahr 1966 an sein Ende gekommen sei, hat er dennoch überlebt – nicht selten in freieren Formen, als Breton selbst sie vertrat. In der DDR beispielsweise bildete der Surrealismus ein Gegengewicht zum sozialistischen Realismus und wurde unter anderen von Karlheinz Barck und Lothar Lang als befreiende Kraft gepriesen.[4] Eine ortsspezifische Klanginstallation setzt sich mit den unterschiedlichen Nachwirkungen des Surrealismus auseinander, indem sie Archivaufnahmen, poetische Fragmente und neu beauftragte Audiogedichte miteinander miteinander verwebt, die von aus verschiedenen Kontexten stammenden Autor*innen mit einer Affinität zur surrealistischen Ästhetik inspiriert sind. Dazu zählen Lesungen aus den Werken von Donte Collins, Kamala Surayya Das, Elke Erb, Joyce Mansour, Meret Oppenheim, Bert Papenfuß-Gorek, Nicanor Parra, Shang Qin und anderen. So zeigen sie einen transnationalen, mehrsprachigen Zugang zur surrealistischen Poetik auf.
Im Rahmen von Unwirkliche Verbindungen: Andere Geografien des Surrealismus schlägt die kartografische Installation des Forschers, Autors und Künstlers Moses März eine Brücke zwischen historischen und zeitgenössischen Perspektiven. Durch ein dynamisches Zusammenspiel von Archivmaterial, kartografischen Experimenten und neu in Auftrag gegebenen Werken präsentiert März surrealistische Kartografierungstechniken als eine lebendige, sich entwickelnde Praxis.
In Fortführung des 2024 gefeierten hundertjährigen Jubiläums des Surrealismus lässt Unwirkliche Verbindungen: Andere Kartografien des Surrealismus den Geist einer Bewegung wieder aufleben, die mit der Sprengung künstlerischer, kultureller und wissenschaftlicher Grenzen historisch einzigartig ist. Das Programm beleuchtet, wie der Surrealismus weit über seine ursprünglichen Wurzeln hinaus zu einer globalen, transformativen Kraft geworden ist, indem es Stimmen und Praktiken hervorhebt, die von den vorherrschenden Erzählungen oftmals in den Hintergrund gedrängt wurden. Von Freiheitsbestrebungen und Kämpfen um Identität bis hin zur Subversion dominanter Ideologien offenbart das Festival die außergewöhnliche Fähigkeit des Surrealismus, kulturelle, zeitliche und ideologische Grenzen zu überwinden.
[1] Zitiert in: „July 4th – (Ted Joans)“, The Allen Ginsberg Project (4. Juli 2020), https://allenginsberg.org/2020/07/s-j4/
[2] André Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1968, S. 26.
[3] Suzanne Césaire, The Great Camouflage: Writings of Dissent (1941–1945), hg. von Daniel Maximin, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 2012, S. 37.
[4] Gerrit-Jan Berendse, Surrealismus in der DDR: Kampfansage an den sozialistischen Realismus in der ostdeutschen Literatur 1945-1990, Göttingen: Wallstein Verlag, 2022, S. 12.
Mit Beiträgen von:
Shane AndersonMarwa Younes AlmokbelChristian FilipsPablo GīwShehan KarunatilakaBirgit KirbergAnna LuhnMoses MärzEmilie MoorhouseSavanna ‘Sweetwater’ MorganFiston Mwanza MujilaBen OkriMiriam RainerKelvin SholarLisa SpaltYoko TawadaUlrike Vedder
Unwirkliche Verbindungen ist ein Projekt des HKW in Zusammenarbeit mit EXC 2020 Temporal Communities.